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Werner Onken:
Michael Endes „Unendliche Geschichte“ - eine Geschichte über die Heilung der Welt
In seinem 1973 erschienenen Märchenroman „Momo“ hat Michael Ende mit dichterischen Mitteln dargestellt, wie wichtig eine Überwindung der von den Grauen Herren repräsentierten strukturellen Macht des Geldes wäre, um den Menschen die ihnen gestohlene Lebenszeit zurückzugeben und der Entfaltung ihrer kulturellen Kreativität eine gerechte wirtschaftliche Grundlage zu geben. Auch die „Unendliche Geschichte“ (1979) ist eine Geschichte von der Heilung der Welt von ihren Krankheiten Ungerechtigkeit und Macht, auch wenn die zentrale Rolle der Macht des Geldes über die Menschen und die Natur hierin nicht so sehr im Vordergrund steht wie in „Momo“.
Die „Unendliche Geschichte“ beginnt in einem Antiquariat. Beim Stöbern findet der Schüler Bastian Balthasar Bux ein Buch mit dem Titel „Die unendliche Geschichte“; er nimmt es heimlich mit und versteckt sich auf dem Dachboden seiner Schule, um dieses Buch über die geheimnisvolle Krankheit des Landes Phantasien und der Menschenwelt - sie entsprechen dem „Morgen-Land“ und dem „Heute-Land“ im Buch „Momo“ - zu lesen. Und je weiter sich Bastian in das Buch hinein liest, desto mehr fesselt ihn der Inhalt, bis er unversehens vom Leser des Buches zu einer darin selbst handelnden Person wird.
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Das Land Phantasien wird von der Kindlichen Kaiserin regiert, die „wirklich alle gleich“ behandelt und auf jede Form von Gewalt verzichtet. Dennoch befindet sich Phantasien in einer schweren Krise, denn die Kindliche Kaiserin leidet an einer bedrohlichen Krankheit. Sie hat keine medizinisch erklärbare Krankheit wie etwa einen Husten oder Rheuma, sondern eine Krankheit, durch die Phantasien von Tag zu Tag mehr zu einem grauen Nichts abstirbt. (S. 34-35, 52,54)
Die Kindliche Kaiserin und mit ihr ganz Phantasien haben nur eine Aussicht auf Heilung: Und zwar bekommt Atreju, der „Sohn aller“ (44) aus dem „gräsernen Meer hinter den Silbernen Bergen“ (38 – sind damit vielleicht die Natur und das Geld gemeint?), den Auftrag, Hilfe für die Kindliche Kaiserin zu suchen. Als schützenden Begleiter gibt die Kindliche Kaiserin Atreju ein Medaillon „Auryn“ mit auf den Weg; es verleiht ihm eine „große Macht“, aber er darf bei all seinen Abenteuern und Prüfungen keine Waffengewalt anwenden. (43) Auf seinem langen und mühseligen Weg durch „Tote Berge“, „Sümpfe der Traurigkeit“ und „Drei Magische Tore“ zum „Südlichen Orakel“ bekommt Atreju zeitweise noch eine zusätzliche Hilfe durch den Glücksdrachen Fuchur.
Von Uyulala, der göttlichen „Stimme der Stille“ (106), erfährt Atreju unterwegs, dass er einen „neuen Namen“ als Heilmittel für die Kindliche Kaiserin suchen soll. Und diesen „neuen Namen“ könne er nur außerhalb Phantasiens in der „Äußeren Welt“ finden, wo die „Adamssöhne und Evastöchter“ leben. Nur ein Menschenkind könne ihm den „neuen Namen“ für die Kindliche Kaiserin sagen. (61, 109-111) Doch wo liegt überhaupt die Grenze zwischen Phantasien und der Äußeren Welt? Atrejus weiterer Weg zu einem Menschenkind ist voller Gefahren, zumal ihm auch noch sein Medaillon „Auryn“ abhanden kommt. In einer „Spukstadt im Gelichterland“ erfährt Atreju von einem Werwolf Gmork, „dass nicht nur Phantasien krank ist, sondern auch die Menschenwelt, in der große Geschäfte gemacht, Kriege geführt und Weltreiche begründet werden.“ (144) Sowohl über der Menschenwelt als auch über Phantasien liegt der dunkle Schatten der Lüge.
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Während sich Atreju von Phantasien aus auf den Weg zur Menschenwelt macht, beginnt Bastian zu ahnen, dass er selbst das Menschenkind ist, das sich aus der Menschenwelt auf den Weg nach Phantasien aufmachen muss, um den „neuen Namen“ der Wahrheit dorthin zu bringen und dadurch „beide Welten wieder gesund zu machen“. (145, 170) Indem Atreju und Bastian aufeinander zu gehen, werden sie zu einer Brücke zwischen der gegenwärtigen Menschenwelt und dem zukünftigen Phantasien. Wie durch einen Gedankenblitz steht Bastian plötzlich der „neue Name“ vor Augen, der die Kindliche Kaiserin heilen und beide Welten retten kann: er lautet „Mondenkind“ (161). Der neue Name der Kindlichen Kaiserin bringt die rettende Wahrheit, dass die Besinnung auf den ewigen Rhythmus des Werdens und Vergehens das absterbende Leben von Grund auf erneuern kann. Als Bastian der Kindlichen Kaiserin diesen neuen Namen bringt, wird sie bald wieder gesund. Und das schon fast ganz abgestorbene Phantasien feiert seine Wiederauferstehung, indem aus einem einzigen noch übrig gebliebenen Sandkorn eine zauberhafte Fülle von Pflanzen und Blüten mit „Abertausenden von kleinen Sternenblumen“ hervorwächst. (196)
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Voller Dankbarkeit verleiht die Kindliche Kaiserin Bastian das Medaillon „Auryn“ und macht ihn damit zu „ihrem Stellvertreter“. Auf der Rückseite entdeckt er die Worte „Tu Was Du Willst“ und erhält das Versprechen, dass alle seine Wünsche in Erfüllung gehen. Allerdings wünscht sich Bastian nicht nur Gutes, sondern auch Schlechtes. So geschieht auf seinem weiteren Weg auch viel Unheil, bis er schließlich seinen „wahren Willen“ herausfindet. (228)
Zunächst kommt es in der Silberstadt Amarganth, wo gerade ein großer Wettbewerb von Liedersängern und Geschichtenerzählern stattfindet, zu der von Bastian erhofften Begegnung mit Atreju. Auf ihrem gemeinsamen weiteren Weg, auf dem Bastian auf seiner Mauleselin Jicha reitet (273), rät ihm Atreju, keinen Gebrauch von der ihm durch „Auryn“ verliehenen Macht zu machen und in die Menschenwelt zurückzukehren: „Du musst zurück und versuchen, deine Welt in Ordnung zu bringen, damit wieder Menschen zu uns nach Phantasien kommen. Sonst geht Phantasien früher oder später von neuem zugrunde, und alles war umsonst.“ (289)
Bastian jedoch denkt, dass „wir die Menschenwelt nicht mehr brauchen“. (305) Nach und nach vergisst er sie sogar ganz und erliegt den Versuchungen der Macht. Gegen Atrejus Rat will er zum Elfenbeinturm zurückkehren, obgleich sich die Kindliche Kaiserin dort nicht mehr aufhält. Er will zum „weisesten Weisen“ in ganz Phantasien werden und erfährt im „Sternenkloster“, dass die „Drei Tief Sinnenden“ wie das Judentum, Christentum und der Islam in Lessings Ringparabel gleichermaßen recht haben. (329 -335) Als „Großer Wissender“ will sich Bastian nun im Elfenbeinturm selbst zum Kindlichen Kaiser krönen lassen; er will „die Allmacht ergreifen“ und verlangt sogleich die „vollständige Unterwerfung unter seinen Willen“. (347 - 349)
Atrejus Plan, Bastian das Medaillon „Auryn“ heimlich zu entwenden und ihn dadurch vor sich selbst und seinem Größenwahn zu schützen, misslingt. Dadurch werden Bastians Misstrauen und Machthunger nur noch größer, und aus den beiden Freunden werden erbitterte Gegner. (342/43) Bald trennt sich Bastian von seiner Mauleselin Jicha und lässt sich auf einer vornehmen Sänfte weitertragen. An der Spitze eines Heeres von willenlosen „Panzerriesen“ (322) kämpft er gegen Atreju, der „nicht für sich kämpfte, sondern für seinen Freund, den er besiegen wollte, um ihn zu retten.“ (355) Am Ende der blutigen Schlacht wird der Elfenbeinturm zerstört und Atreju unterliegt. Doch hinterlässt der Ausgang des Kampfes in Bastian ein bitteres Gefühl der Leere.
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In der „Alten Kaiser Stadt“ beginnt schließlich Bastians innere Wandlung. In dieser Stadt sieht er verrückt und wahnsinnig gewordene Menschen, die schon vor ihm an dem Versuch gescheitert waren, allmächtige Kaiser von Phantasien zu werden. Ihr erschreckender Anblick lässt ihn erkennen, dass Atreju es eigentlich gut mit ihm gemeint hatte. (369)
Auf seinem weiteren Weg durch das „Nebelmeer“ kommt Bastian in eine gleichsam urkommunistische „Korbstadt“ mit vielen Werkstätten von Handwerkern. Sie liegt in der Mitte Phantasiens und heißt „Yskal“, was so viel bedeutet wie „etwa die Gemeinsamen“. In diesem „Flechtwerk … arbeitete niemals einer allein, denn alle diese Dinge konnten nur durch die Zusammenarbeit mehrerer hergestellt werden.“ Trotzdem hat diese Stadt einen schweren Mangel, denn die Einwohner „schienen das Wörtchen ‚ich’ nicht zu kennen. Jedenfalls sprachen sie immer nur per ‚wir’. … Der einzelne zählte bei ihnen nichts. In dieser Gemeinschaft gab es Harmonie, aber keine Liebe.“ (373 – 377)
Danach führt die „Dame Aiuola“ Bastian zum „Änderhaus“, wo sich seine innere Wandlung vollendet „wie alle wahren Veränderungen, die leise und langsam vor sich gehen wie das Wachstum einer Pflanze“. Im „Änderhaus vernimmt Bastian „eine warme, schöne Frauenstimme“: „Großer Herr, sei wieder klein! Sei ein Kind und komm herein.“ (383) Dadurch erkennt er schließlich seinen „wahren Willen zu lieben“. Statt länger nach Macht zu streben, will er die „Quelle finden, wo das Wasser des Lebens entspringt“. Er will von ihrer Liebe trinken und dann in die Menschenwelt zurückkehren, um den Menschen die Liebe zu bringen. Und wenn dann auch Menschen wieder Liebe nach Phantasien bringen, werden beide Welten „nur noch eine“ und in Liebe vereint sein. (392 – 394)
Kurz bevor Bastian in die Menschenwelt zurückkehrt, erfährt er noch in einem „Bergwerk der Bilder“, dass ganz Phantasien aus „vergessenen Träumen aus der Menschenwelt“ besteht und „auf den Grundfesten aus vergessenen Träumen“ errichtet ist. (401) Durch die Berührung mit dem Wasser des Lebens fühlt sich Bastian nun wie neugeboren. Im Gefühl der „Freude, lieben zu können“, versöhnt er sich mit Atreju. Danach verabschieden sich die beiden und kehren zurück in ihre eigenen Welten - getragen von der Gewissheit, gute Freunde in der jeweils anderen Welt zu haben. (416 - 418)