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Roland Geitmann:
Bibel, Kirchen und Zinswirtschaft
Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf einer Tagung der „Internationalen Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung“ am 10. September 1989 in Wuppertal-Neviges. – Zuerst veröffentlicht in der „Zeitschrift für Sozialökonomie“ 80. Folge (1989), S. 17–24 und danach mehrfach nachgedruckt.

A.

Was Hunderttausende von überschuldeten Haushalten in der Bundesrepublik, Tausende von Firmenkonkursen und dadurch bedingte Familientragödien um uns herum nicht vermochten, bewirken schließlich Hunger und Elend der hoch verschuldeten Entwicklungsländer wenigstens ansatzweise, nämlich dass einzelne Theologen sich öffent­lich an biblische Regeln über Zinsen und Schuldenerlass erinnern (1), also daran, dass es verwerflich ist, sich an der Not anderer zu bereichern und mehr zurückzuverlangen, als man leihweise gegeben hat. Der weltweite Skandal, dass wir Reichen im Norden vom Süden nicht nur Schuldentilgung verlangen, sondern auch Zinsen eintreiben, und zwar mehr, als wir Entwicklungshilfe leisten, kann vielleicht auch den Blick dafür schärfen, dass solche Ausbeutung Grundprinzip unserer Wirtschaft geworden ist. Noch wird kaum erkannt, dass in allen Preisen ein erheblicher Zinsanteil steckt, dass vier Fünftel der Verbraucher viel mehr Zinsen zahlen als sie je einnehmen, dass die Verzinsung des Anlagekapitals zu exponentiellem Wachstum unserer Wirtschaft zwingt und damit der Treibriemen ist für Umweltzerstörung, Technisierung, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Staatsverschuldung und militärische Rüstung. (2)

Die tödlichen Auswirkungen solcher auf Habsucht und Ausbeutung fußenden Wirtschaftsweise sind der Menschheit im Prinzip seit Jahrtausenden bekannt; Babylon, Ägypten und Rom, aber auch das alte Israel der Könige liefern dafür Anschauungsmaterial. Deshalb kann nicht überraschen, dass sich Regeln zur Geld- und Bodenordnung, und dabei insbesondere das Zinsverbot, wie ein roter Faden durch die Religionsgeschichte, insbesondere auch das Christentum, ziehen. In einer Zeit, welche diese Weisheiten nahezu völlig vergessen hat und in der sich die Folgen dessen dramatisch zuspitzen, mag es hilfreich sein, sich der Erkenntnisse früherer Jahrhunderte zu erinnern und daraus Impulse für die Suche nach einer gerechten Ordnung zu entnehmen.

B.

Das jüdisch-christliche (und auch im Koran verankerte) Zinsverbot hat eine 3000 Jahre alte Geschichte. Theologen der letzten 150 Jahre neigen dazu, die Bedeutung dieses Verbotes rückwirkend zu relativieren und das Anliegen als überholt darzustellen. Deswegen sind viele Interpretationsfragen in dieser Ideengeschichte umstritten. (3)

1  Bibel

1.1  Altes Testament

Das älteste, nämlich das zweite Buch Mose (Exodus) verbietet in Kap. 22 Vers 24/5 das Zinsnehmen: "Wenn du Silber leihst einem aus meinem Volke, dem Armen neben dir, sei gegen ihn nicht wie ein Schuldherr; legt ihm nicht Zins auf.“

In der jüngeren Quelle des dritten Buches Mose (Leviticus) heißt es im Kap. 25 Vers 35-37: „Und wenn dein Bruder verarmt und seine Hand neben dir wackelt, so sollst du ihn festhalten wie einen Fremdling und Beisassen, auf dass er neben dir lebe. Nimm nicht von ihm Zins und Mehrung und fürchte dich vor deinem Gott, auf dass dein Bruder neben dir lebe. Dein Geld gib ihm nicht auf Zins und um Mehrung gib ihm nicht deine Nahrungsmittel.“

Das in seinem Alter umstrittene fünfte Buch Mose (Deuteronomium) fasst das Zinsverbot in folgende Worte: „Du sollst nicht Zins auferlegen deinem Bruder, Zins auf Geld, Zins für Nahrungsmittel, Zins für irgend eine Sache, die man auf Zins leiht. Dem Fremden magst du Zins auferlegen, aber deinem Bruder sollst du nicht Zins auferlegen, damit dich segne der Herr, dein Gott, bei jeglicher Unternehmung deiner Hand in dem Lande, dahin du kommst, um es in Besitz zu nehmen.“

Nach der rabbinischen Lehre umfasst das Zinsverbot alles, was über das Geliehene hinausgeht, jegliches Mehr. Jeder Zins, unabhängig von seiner Höhe, gilt hiernach als verbotener Wucher. Der Hinweis auf den armen Bruder als Zinszahler deutet zwar darauf hin, dass primär das Konsumdarlehen gemeint ist. Dies erlaubt aber noch nicht den in neuerer Zeit gezogenen Gegenschluss, dass das verzinste Produktivdarlehen folglich erlaubt sei. Als zulässig gelten allerdings Geldeinlagen gegen Gewinn- und Verlustbeteiligung, wie sie später auch der Islam aufgreift und in verschiedenen Formen weiter entwickelt.

Das Zinsverbot ist eingebettet in weitere Regeln: das „Erlassjahr“ (5. Mose 15, 1 - 11), wonach in jedem 7. Jahr alle Schulden zu erlassen sind, und das „Halljahr“ (3. Mose 25), das im 50. Jahr den Grundbesitz an die ursprünglichen Eigentümer zurückfallen lässt, so dass der Boden nicht auf Dauer veräußert werden kann und sich sein Preis am Wert der noch ausstehenden Ernten bemisst. Diese für seine Durchsetzbarkeit notwendige Einbettung in Erlassregeln und Bodenrecht hat das Zinsverbot im Laufe der Geschichte verloren - mit schwerwiegenden Folgen.

Sehr deutlich beschränkt das Deuteronomium das Zinsverbot auf Darlehen an Juden und erlaubt die Zinsnahme von Fremden. Dieses sog. Personalitätsprinzip ist jedoch nicht spezifisch jüdisch, sondern kennzeichnet alle antiken und mittelalterlichen Rechtsordnungen (4). Verständlicherweise werden Hilfs- und Liebespflichten nur gegenüber den eigenen Volkszugehörigen auferlegt. Andernfalls wären Fremde sogar begünstigt, wenn sie von Juden Zinsen nehmen dürften, aber an Juden keine zu zahlen hätten. Heute ist solche Unterscheidung in dieser Frage jedoch nicht mehr angemessen. Schon der Prophet Ezechiel (Hesekiel) macht sie nicht mehr: „Wer auf Zins leiht und Zuschlag nimmt, sollte der am Leben bleiben? - Er wird nicht am Leben bleiben! ... Er muss sterben! Sein Blut komme über ihn!" (18, 13) (5)

1.2  Christliche Botschaft

Noch weiter geht Jesus Christus in seinen Forderungen. In seiner Bergpredigt sagt er: „Vielmehr liebet eure Feinde und tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein." (Lukas 6, 35).

Damit wird das Verbot des Zinsnehmens als selbstverständlich vorausgesetzt und darüber hinaus gefordert, gegebenenfalls auch auf die Rückgabe des Geliehenen zu verzichten. Dies wird noch deutlicher bei der Wiedergabe der Bergpredigt bei Matthäus (5, 38 ff.), wo das Thema „Borgen“ im Zusammenhang mit der Aufforderung angesprochen wird, nach einem Schlag auf den rechten Backen auch den anderen darzubieten sowie dem, der den Rock will, auch den Mantel zu lassen. Anschließend heißt es: ”Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem ab, der von dir borgen will!" (5, 42).

Dass materielles Gewinnstreben und Christusnachfolge unvereinbare Gegensätze sind, wird an vielen Stellen deutlich, etwa in dem Ausspruch, dass ein Kamel leichter durch ein „Nadelöhr“ gehe (womit ein Fußgängertor gemeint ist), als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme (Matthäus 19, 24), und in dem markanten Satz: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon." (Matthäus 6, 24)

2  Kirche

2.1  Frühzeit

Als Quellen hierfür dienen neben den Synoden vor allem die als „Kirchenväter“ und Heilige verehrten altchristlichen Kirchenschriftsteller, die entgegen den geltenden römischen Gesetzen das Zinsnehmen einhellig untersagten (6). Von Lactantius (gest. 330 n.Chr.), einem der höchstgebildeten und gelehrtesten Männer seiner Zeit, stammt folgender Satz:

„Es ist äußerst ungerecht, mehr zu fordern als man gegeben hat. So handeln, das ist seinen Nächsten ausbeuten und auf perfide Weise mit seiner Not spekulieren."

Nachdrücklich verdammte der heilige Gregor von Nyssa (ca. 334 - 394 n.Chr.), griechischer Bischof und bedeutender Theologe und Mystiker, den Zins: „Was ist für ein Unterschied, durch Einbruch in Besitz fremden Gutes zu kommen auf heimliche Weise und durch Mord als Wegelagerer, indem man sich selbst zum Herrn des Besitzes jenes Menschen macht oder ob man durch Zwang, der in den Zinsen liegt, das in Besitz nimmt, was einem nicht gehört?“

Auch Ambrosius (340 - 397), Augustinus (354 - 430) und Hieronymus (331 - 420) verurteilten das Zinsnehmen scharf, obwohl sie sich dadurch heftigen Angriffen aussetzten.

Auf zahllosen frühkirchlichen Synoden wurde das Zinsverbot beschlossen und bekräftigt. Die Synode von Elvira (im Jahr 306) verbot das Zinsnehmen sowohl dem Klerus als auch den Laien. Nach dem christenfreundlichen Mailänder Toleranz-Edikt im Jahre 313 durch Konstantin erwies sich die Kirche prompt um ein Stück angepasster und beschränkte das Zinsverbot auf den Klerus, so die Synode von Arles im Jahr 314 und das Konzil von Nicäa im Jahr 325 wie auch spätere Synoden und Konzilien (7). Eine Unterscheidung zwischen Wucher und Zins gab es indes ebenso wenig wie danach, zu welchem Zweck das Darlehen gegeben wurde, ob zum Konsum oder zum Erwerb (8). Zur Begründung dienten zum einen das Alte und Neue Testament, zum anderen die natürlichen Prinzipien der Gerechtigkeit, wie sie schon in der griechischen Philosophie insbesondere durch Aristoteles formuliert wurden.

2.2  Mittelalter

Allgemeine Geltung erlangte das Zinsverbot erst unter den Karolingern. Nachdem England 787 vorausging, legte Karl der Große der Synode von Aachen im Jahr 789 ein entsprechendes Gesetz vor. Kaiser Lothar bestimmte im Jahr 825: „Wer Zins nimmt, wird mit dem Königsbann belegt, wer wiederholt Zins nimmt, wird aus der Kirche ausgestoßen und soll vom Grafen gefangen gesetzt werden.“

Nach Geltung und Wirkung ist zweifellos das Mittelalter der Höhepunkt des Zinsverbots. Die religiöse Haltung der Menschen, das mittelalterliche Bodenrecht und die zunächst noch vorherrschende Naturalwirtschaft machten dies möglich. Als die Geldwirtschaft zunahm, erleichterten es die immer wieder zum Umtausch aufgerufenen Brakteaten von ca. 1150 bis 1350 (9), das Zinsverbot aufrechtzuerhalten, zumal die von Landwirtschaft und Handwerk ferngehaltenen und auf Geld- und Warenhandel beschränkten Juden die Rolle des Sündenbocks wahrnahmen.

Deshalb konnte das zweite Laterankonzil 1139 beschließen: „Wer Zins nimmt, soll aus der Kirche ausgestoßen und nur nach strengster Buße und mit größter Vorsicht wieder aufgenommen werden. Einem Zinsnehmer, der ohne Bekehrung stirbt, soll das christliche Begräbnis verweigert werden.“

Papst Eugen III. verkündete 1150: „Wer mehr nimmt als die Leihsumme ausmacht, verstrickt sich in die Sünde des Wuchers. Alles, was zur Leihsumme hinzukommt, ist Wucher.“

Und selbstbewusst gegenüber weltlichen Herrschern statuierten die Päpste Alexander III. (1179) und Clemens V. (1311): „Jede Gesetzgebung, die den Zins erlaubt, ist null und nichtig."

Wie diffizil die Materie jedoch bei näherem Hinsehen ist, zeigen die ausführlichen Erörterungen beim heiligen Thomas von Aquin (1224 - 1274), dem bedeutendsten Theologen und Philosophen des Mittelalters. Zwar verurteilt auch er den Zins als in sich ungerecht (unter Berufung u.a. auf Aristoteles): „Das Geld kann nur durch Ausgeben gebraucht werden, also ist dem Gläubiger kein Zins zu vergüten. Auf Zins ausleihen ist Sünde."

Doch anerkennt Thomas nicht nur Miete und Pacht, und zwar bei Dingen, die durch den Gebrauch nicht verbraucht werden, sondern auch Gewinn- und Verlustbeteiligung durch einen Gesellschaftsvertrag und Schadensersatz kraft gesonderter Vereinbarung.

Gedrängt durch die Bedürfnisse der Wirtschaftspraxis entwickelt die Spätscholastik (14./15. Jh.) hieraus eine verzweigte Zinstiteltheorie, welche das Zinsverbot zunehmend durchlöchert. Danach kann der Darlehnsgeber im begründeten Einzelfall Ersatz für ihm entstandenen Schaden oder auch entgangenen Gewinn verlangen, wie auch einen Risikozuschlag und Konventionalstrafe bei verzögerter Rückzahlung, sofern solches gesondert vereinbart wurde. Auch entsprach es dem eigenen Interesse der Kirche, insbesondere dem vieler Klöster, den Rentenkauf anzuerkennen, wodurch sich der Grundstücksverkäufer von dem Käufer eine regelmäßige Leistung versprechen lassen konnte, sei es auf Dauer, sei es einseitig oder beidseitig kündbar. Sobald diese Leistung nicht mehr abhängig war von dem jeweiligen Ertrag eines konkreten Grundstücks, näherte sich ein solches Vertragsverhältnis dem verzinsten Darlehen.

Anerkannt wurde auch die Forderung nach Ersatz von Aufwendungen, die Leihanstalten kirchlicher Orden (Montes pietatis) hatten, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in italienischen Städten hilfsbedürftigen Menschen gegen Pfand Geld oder andere Dinge liehen.

Sehr umstritten blieb dagegen der Versuch, das Zinsverbot durch einen sogenannten „contractus trinus“ zu umgehen, bei dem durch Koppelung eines Gesellschaftsvertrages mit zwei Versicherungsverträgen eine feste Gewinnbeteiligung und die Rückgabe des geliehenen Betrages vereinbart wurden.

2.3  Neuzeit

Seit dem Ende der Brakteatenzeit konnte sich die Kirche mit dem Zinsverbot nicht mehr durchsetzen. Sobald das Geld wieder als Wertaufbewahrungsmittel geeignet war, sorgten Gewinnsucht, Phantasie und die Vielfalt der wirtschaftlichen Verhältnisse für eine rasche Verbreitung des Zinses und damit für eine zunehmende Aufspaltung in Arme und wenige Reiche sowie für den wirtschaftlich-sozialen Niedergang im 14./15. Jahrhundert. Gefördert wurde diese Entwicklung durch studierte Juristen, die das römische Rechtsdenken übernahmen, insbesondere die mit dem römischen Eigentumsbegriff verbundene absolute Verfügungsgewalt, und damit dem römischen Geldgeist zum Durchbruch verhalfen.

Eine solche Entwicklung brachte z.B. einen Jakob Fugger (II., 1459 - 1525) hervor, der in Venedig seine Lehrzeit verbrachte und mit Spürsinn die enormen, aber brachliegenden Geldrücklagen des mittleren und oberen Klerus aufstöberte und heimlich als verzinste Einlagen heranzog, um sie gewinnbringend weiterzuverleihen, insbesondere an Kaiser Maximilian I. gegen Übertragung von Silber- und Kupfermonopolen und an Päpste, für die er führender Bankier wurde und auch den Ablassverkauf organisierte (10). Beiläufig versuchte er auch auf die theologische Meinungsbildung zur Zinsfrage Einfluss zu nehmen, indem er den Theologieprofessor der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt Johannes Eck protegierte und im Jahr 1515 eine Scheindisputation in Bologna förderte, bei der Eck für eine generelle Erlaubnis des Zinsnehmens bis 5 % plädierte (11).

Durch Handelsmonopole und Zinsbelastung bewirkte Teuerungen und dementsprechende wirtschaftliche und soziale Not der ländlichen Bevölkerung waren Schubkräfte für die Reformation Martin Luthers (1483 - 1546). In mehreren Schriften wendet er sich leidenschaftlich gegen Wucher und Monopole: „Darum ist ein Wucherer und Geizhals wahrlich kein rechter Mensch; er sündigt auch nicht eigentlich menschlich! Er muss ein Werwolf sein, schlimmer noch als alle Tyrannen, Mörder und Räuber, schier so böse wie der Teufel selbst! Er sitzt nämlich nicht als ein Feind, sondern als ein Freund und Mitbürger im Schutz und Frieden der Gemeinde und raubt und mordet dennoch gräulicher als jeder Feind und Mordbrenner. Wenn man daher die Straßenräuber, Mörder und Befehder rädert und köpft, um wie viel mehr noch sollte man da erst alle Wucherer rädern und foltern, alle Geizhälse verjagen, verfluchen und köpfen. ...“ (12)

Luther geht davon aus, dass Wucher (unabhängig von seiner Höhe) stets vorliegt, wo man Geld leiht und dafür mehr oder Besseres fordert oder nimmt, und dass Wucher Teuerung zur Folge hat und in kurzer Zeit das ganze Land auffrisst. Allerdings nennt auch er Ausnahmen, indem er Schadensersatz bei verspäteter Rückzahlung und bei konkretem Gewinnentgang zubilligt, den „Zinskauf“ (Rentenkauf) über ein „benanntes“ Grundstück in Form eines bestimmten Prozentsatzes des konkreten Ertrags erlaubt und darüber hinaus das „kleine Notwücherlein“ zulässt, das z.B. dann vorliege, wenn eine Witwe außer einer Zinseinnahme für ihr Vermögen sonst nichts zum Leben habe. Trotz der entschiedenen Verurteilung des Zinsnehmens ermahnt Luther in der Praxis, den Zins pünktlich zu zahlen, sofern die Forderung nicht vom Fürsten für ungültig erklärt wurde, und rät diesem, den Zins nicht abrupt zu senken.

Der Reformator Ulrich Zwingli (1484 - 1531) geht in Richtung Säkularisierung einen Schritt weiter, indem er einerseits den Zins für ungöttlich und unchristlich erklärt, andererseits dem Staat das Recht zuerkennt, den Zinsfuß festzusetzen.

Die Nähe zu Handel und Produktion ist noch stärker spürbar bei Johann Calvin (1509 -1564), der das Zinsnehmen erlaubt, wenn es mit Billigkeit und brüderlicher Liebe im Einklang stehe; im Gegensatz zum Wucher könne der Zins nicht unerlaubt sein, da sonst gewinnträchtiger Handel unmöglich sei. „Geld ist dazu da, sich durch wirtschaftliche Tätigkeit zu vermehren." Diese Einstellung hat den Kapitalismus insbesondere in England und Amerika gefördert.

Im 16. Jahrhundert wurde um die Zinsfrage außerordentlich heftig gerungen. Um 1600 schließlich wurde auf evangelischer Seite Luthers prinzipielle Absage an das Zinsnehmen „unauffällig korrigiert und der entstehenden Geldwirtschaft Rechnung getragen.“ (13) Die zunehmende Verquickung von Staat und Wirtschaft, das evangelische Staatskirchentum und die staatlichen Bindungen der theologischen Fakultäten haben das Thema Zins so nachhaltig in der Versenkung verschwinden lassen, dass viele protestantischen Pfarrer heute außer dem missverstandenen Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Matthäus 25, 27) hierzu keinerlei Assoziationen mehr haben und im Zins insbesondere kein theologisches Problem mehr sehen (14).

Demgegenüber muss man der Katholischen Kirche bescheinigen, dass sie viel länger und nachhaltiger um die Zinsfrage rang. Obwohl weltliche Mächte zunehmend den Zins ausdrücklich zuließen (so italienische Städte seit dem 14. Jahrhundert, Kurhessen 1550, Bayern 1553, Mecklenburg 1562, Preußen und Polen 1569, zuletzt Frankreich 1789), und trotz heftiger Angriffe bekräftigten über 40 Synoden im 16. bis 18. Jahrhundert das Zinsverbot. Veranlasst durch zinsfreundliche Schriften u.a. des italienischen Gelehrten Scipio Maffei erließ Papst Benedikt XIV. im Jahre 1745 die bedeutsame Enzyklika „Vix pervenit“, in der er das Zinsverbot aufrechterhielt, wenn auch mit Hinweis auf die in der Spätscholastik entwickelten externen Ausnahmetitel.

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Siegeszug des Kapitalismus veranlassten jedoch zahlreiche katholische Moraltheologen (insbesondere Pesch, Biederlack, Pruner, Zehentbauer, Ratzinger, Schindler, Cathrein, Linsenmann), das Zinsnehmen zu rechtfertigen (15). Die tatsächlichen Verhältnisse hätten sich verändert; Geld sei fruchtbar geworden, denn generell bestehe die Möglichkeit zu gewinnträchtiger Anlage. Es wird zwischen Zins und Wucher unterschieden bzw. zwischen Konsumtiv- und Produktivdarlehen. Man beruft sich auf das „moderne sittliche Bewusstsein“ und darauf, dass der Zins förderlich sei für Handel und Verkehr. Die tragischen Folgen erkennen nur Wenige.

Nur Einzelne hielten dagegen. Zu nennen sind insbesondere: Karl von Vogelsang (1818 - 1890), Jurist aus Mecklenburg, 1850 konvertiert, gründete in Wien die Monatsschrift für christliche Sozialreform und bekannte, „der Zins ist der Angelpunkt der Sozialen Frage" und Wilhelm Hohoff (1848 - 1923), Pfarrer und Verehrer von Karl Marx, Verfechter einer Vereinigung von Christentum und Sozialismus und entschiedener Vertreter der Arbeitswerttheorie, wonach nur menschliche Arbeit Werte schaffen kann. Aus späterer Zeit sind zu nennen vor allem Anton Orel (1881 - 1959), Jurist und Jugendführer mit seinem zweibändigen Werk „Oeconomia perennis“ (1930), des Weiteren Johannes Kleinhappl (16), der Grazer Theologieprofessor Johannes Ude (17) wie auch Abt Alois Wiesinger und Franz Koutny (18).

Doch die Macht des Faktischen siegte schließlich auch in der Katholischen Kirche. 1870 scheiterte eine zur Bekräftigung des Zinsverbots gestartete Initiative von 22 Bischöfen beim Ersten Vatikanischen Konzil, weil dieses wegen des Ausbruchs des deutsch-französischen Krieges vorzeitig beendet wurde. In seiner Sozialenzyklika „Rerum novarum" vom Jahre 1891 über die Arbeiterfrage spricht Papst Leo XIII. zwar von „gierigem Wucher“, „unersättlichem Kapitalismus“ und davon, dass man den „alles verschlingenden Wucher aus der Welt schaffen" solle, ohne jedoch konkrete Schlussfolgerungen für das Zinsverbot zu ziehen.

Im Kirchengesetzbuch von 1918 (Kanon 1543) versucht die Katholische Kirche in einem kühnen Spagat die traditionelle Lehre und die heutige Geldwirtschaft zu vereinen, indem sie einerseits feststellt, dass der Darlehensvertrag keinen Gewinn rechtfertige, dass andererseits aufgrund (weltlichen) Gesetzes die Vereinbarung eines Gewinnes erlaubt sei.

Die Enzyklika “Quadrogesimo Anno” von Pius XI.(1931) über die Herrschaft des Geldes ist geprägt durch den Verteidiger des Zinsnehmens Oswald von Nell-Breuning. Die Enzykliken „Mater et Magistra“ von Papst Johannes XXIII. (1961), „Populorum Progressio“ von Papst Paul VI. (1967) und „Sollicitudo rei socialis“ von Papst Johannes Paul II. sprechen zwar Symptome an, nicht aber das Zinsverbot.

Die eingehend begründete Initiative von deutschen und österreichischen Laien um Paul Bauschulte und Ernst van Loen (19) an das Zweite Vatikanische Konzil (1962 - 1965) mit dem Ziel, die traditionelle Zinswucherlehre zu erneuern, scheitert an dem Widerstand insbesondere des Kapitalismus-Apologeten Kardinal Johannes Messner. (20) Die ersatzlose Streichung des Zins-Kanons im neuen Kirchengesetzbuch von 1983 markiert das Ende des katholischen Zinsverbots.

C.

Welche Schlussfolgerungen erlaubt diese Entwicklung? Die sich christlich nennende Zivilisation hat den modernen Kapitalismus hervorgebracht; wird sie ihn auch selbst wieder überwinden - oder wird dies vielleicht der Islam besorgen? Müssen wir mit dem römischen Juristen und Dichter Seneca (gest. 65 n.Chr.) resignierend sagen: „Es gibt kein Heilmittel dort, wo das, was man als Untugend angesehen hat, zur Gewohnheit wird"?

Martin Luther geht zwar davon aus, dass mit der Erbsünde auch der Wucher in der Welt bleibt, wird aber nicht müde, die Menschen vor ihm zu warnen: „Wucher muss also sein, aber wehe den Wucherern!" (21)

Zuversichtlicher äußert sich demgegenüber der christliche Sozialpolitiker Friedrich Naumann (1860 - 1919): „Wir zweifeln nicht daran, dass eine Zeit kommen wird, in der sich eine christliche Bewegung gegen den Zins erhebt." (22)

Das Zinsverbot ist Ausdruck eines religiös und sozialethisch wohlbegründeten Anliegens, das heute dringlicher ist denn je: Zu verhindern, dass Menschen andere Menschen ausbeuten, dass die Wirtschaft krebsartig die Erde überwuchert und zerstört, wachsende Geld- und Schuldenberge das Leben zu ersticken drohen und dass der Mensch aus Habgier und Machtsucht Gottes Schöpfung dem Götzen Mammon opfert.

Doch ein isoliertes Zinsverbot, das seine notwendige Ergänzung durch Schuldenerlassregeln und Bodenrecht verloren hat, kann dies nicht leisten. Es wäre sogar schädlich, weil die Geldbesitzer mangels Anreizes ihr Geld zurückhalten würden und den Wirtschaftskreislauf ins Stocken brächten. Es müsste deswegen zumindest durch eine Pflicht zur Weitergabe von Geld ergänzt werden. Aber auch das wäre noch nicht ausreichend, weil das Geld dann zur Bodenspekulation verwendet würde mit all den schlimmen Folgen, die wir in Ballungsräumen erleben. Wie in den mosaischen Gesetzen vorgesehen, gehört also ein die Spekulation ausschließendes Bodenrecht zwingend hinzu.

Doch für eine erwachsen werdende Menschheit haben religiöse Ge- und Verbote ihre Verbindlichkeit verloren, auch wenn es leidvoller Erfahrungen bedarf, sie durch eine aus Einsicht selbst zu entwickelnde Ordnung zu ersetzen. Hierfür enthalten die mosaischen Gesetze entscheidende Hinweise, zum einen den, dass es am Boden nur Nutzungsrechte geben darf, und zum anderen die in den Erlassjahren liegende Erkenntnis, dass auch Geld und Geldforderungen altern und einmal sterben müssen wie alles auf der Erde. Diese beiden Elemente finden sich sowohl bei Silvio Gesell (1862 - 1930) (23) als auch bei Rudolf Steiner (1861 - 1925) (24) und könnten bei sachgemäßer Ausgestaltung und Handhabung den Zins marktwirtschaftlich zum Verschwinden bringen (25).

Solche Vorstellungen stoßen auf Widerstand vor allem bei den Mächtigen dieser Welt, deren Geldthron allmählich schrumpfen würde, aber auch bei den Ausgebeuteten, weil ihre Denkgewohnheiten und Sehnsüchte kapitalistisch geprägt sind. Um diesen Widerstand in und um uns herum zu überwinden, bedarf es großer Anstrengungen. Die Kapitulation der Kirchen vor dem Kapitalismus war wohl notwendig, damit sich die Menschen zu ihrer Selbstverantwortung durchringen. Doch letztlich wird uns nur der religiöse Impuls Kraft und Richtung geben, damit die Katastrophen, die wir erleben, zu Geburtswehen einer neuen Zeit werden (26).

Wer mit offenen Augen die vielfältigen Initiativen und Bewegungen wahrnimmt, z.B. auf dem Markt der Möglichkeiten der Evangelischen Kirchentage (27), entdeckt Keime dieser neuen Zeit. Geld nicht festzuhalten und wuchern zu lassen, sondern kaufend, leihend und schenkend weiterzugeben und mit Boden nicht zu spekulieren, sondern ihn zum Nutzen aller zu pflegen, gehört ebenso zu diesen zukunftsweisenden Verhaltensweisen wie der geschwisterliche Umgang mit Menschen, Tieren und Pflanzen. Damit solche Keime gedeihen können, bedarf es sowohl sich wandelnden Bewusstseins als auch veränderter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. An beidem müssten die Kirchen mitwirken. Nur wenn sie über Appelle hinaus die konkreten Ansatzpunkte notwendiger Veränderungen benennen, insbesondere auch die Geld- und Bodenordnung, und ihre eigene Verstrickung in den Kapitalismus überdenken, werden die Kirchen ihrer Zielsetzung Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung gerecht werden.

Anmerkungen

1  So Ulrich Duchrow, Kirchen, Christen, Wirtschaftssysteme. Fragen und Thesen aus westeuropäischer Sicht zur Weiterarbeit am Sao Paulo-Aufruf zur gehorsamen Nachfolge, in: Beilage zur Jungen Kirche, Heft 1/Januar 1988, S. 11 f. mit Hinweis auf S. Gesell; ders., Grenzenloses Geld für wenige oder Leben für alle in den Grenzen des Wachstums' - Kirche und Kapitalismus angesichts der Schuldenkrise. Beilage zur „Junge Kirche", Heft 9, September 1988; Claus F. Lücker, Zinsverbot und Schuldenerlaß (1999); Arno Schelle, Das Problem des Zinsnehmens in der Theologie und Wirtschaft (2001).
2  Dazu Helmut Creutz, Dieter Suhr, Werner Onken, Wachstum bis zur Krise? (1986); Helmut Creutz, Das Geld-Syndrom (5. Aufl. 2001/4).
3  S. dazu und zum Folgenden von zinsfreundlicher Seite Franz Xaver Funk, Geschichte des kirchlichen Zinsverbots (1876); aus zinskritischer Sicht Anton Orel, Oeconomia perennis - Die Wirtschaftslehre der Menschheitsüberlieferung im Wandel der Zeiten und in ihrer umwandelbaren Bedeutung (1930); Richard Drewes, Das Zinsproblem in der deutschsprachigen Moraltheologie von 1850 - 1920 (1976). Zum Alten Testament und zum Judentum vgl. Eberhard Klingenberg, Das israelische Zinsverbot in Torah, Misnah und Talmud (1977).
4  E. Klingenberg a.a.O. (Anm. 3) S. 34 ff., 74 ff.
5  S. auch 22, 12; auch Psalm 15. 5; Sprüche 1, 18 f. und 28. 8; Nehemia 5, 1 ff.
6  Genaue Fundstellen über die folgenden Angaben und Zitate enthalten die in Anm. 3 genannten Werke.
7  U.a. Carthago (419), Arles (443), Tours (461), Orleans(538), Constantinopel (692), Toledo (694) mit schrittweisen Abschwächungen: Sanktion erst nach erfolgloser Abmahnung und ab Diakon aufwärts.
8  Str., s. dazu Dewes (siehe Anm. 3) S. 24 ff.
9  Dazu Hans Weitkamp, Das Hochmittelalter - ein Geschenk des Geldwesens.
10  S. dazu Götz Freiherr von Pölnitz, Jakob Fugger, Bd. 1 (1949), insbes. S. 112, 217 ff.
11  Pölnitz (siehe Anm. 10) S. 314 ff.
12  Kleiner Sermon vom Wucher (1519). Großer Sermon vom Wucher (1520). Von Kaufhandlung und Wucher (1524). An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen (1540). Der Auszug ist dem Schlussteil der letztgenannten Schrift entnommen; zitiert nach Günter Fabiunke. Martin Luther als Nationalökonom (1963) S. 229.
13  Martin Honecker, Art. „Geld“ in: Theologische Realenzyklopädie Bd. XII (1984) S. 287.
14  Um so wichtiger sind die Ausnahmen, u.a, die Pfarrer Eduard Burri (s. sein Buch zusammen mit Fritz Schwarz: Der Zins vom Standpunkt der christlichen Ethik, der Moral und der Volkswirtschaft. o.J., ca. 1935), Friedhelm Spiecker, Walter Bischoff und Dr. Skriver (s. Veröffentlichungen in der Zeitschrift der AfC „Glaube und Tat“).
15  Dazu Drewes (siehe Anm. 3).
16  S. schon seine Schrift Arbeit - Pflicht und Recht. Fragen der Wirtschaftsethik (1902) sowie die von E. v. Loen herausgegebenen Bände Christliche Wirtschaftsethik (1991), Christentum und Kapitalismus (1992), Kirchliche Kapitalismuskritik (1993) und Soziales Christentum (1994).
17  U.a.: Christentum oder Zinswirtschaft? (1938): Christliche Moraltheologen als Helfershelfer des Kapitalismus (1957).
18  Franz Koutny, Genesis und Folgen des Kapitalismus (1972).
19  Appell an das Ökumenische Konzil. Dokumentation zur Eingabe katholischer Laien an die Kommission für das Laien-Apostulat betr. Fragen der religiösen und sozialen Aktion zur Vorbereitung des von S.H. Papst Johannes XXIII. einberufenen Ökumenischen Konzils zu Rom 1962.
20  S. z.B. seine Schriften: Die soziale Frage (1934). Das Naturrecht (1950).
21  In der in Anm. 12 zuletzt genannten Schrift: Fabiunke S. 202.
22  Soziales Programm der Evangelischen Kirche, 1890.
23  Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld (1. Auflage 1916, 9. Auflage 1949).
24  Nationalökonomischer Kurs (1. Auflage 1922; 5. Auflage 1919) S. 164 f., 171 ff.: Die Kernpunkte der sozialen Frage (1. Auflage 1919; 6. Auflage 1976) S. 87 ff.
25  Dazu u.a. Dieter Suhr. Geld ohne Mehrwert. Entlastung der Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten (1983); D. Suhr/H. Godschalk. Optimale Liquidität. Eine liquiditätstheoretische Analyse und ein kreditwirtschaftliches Wettbewerbskonzept (1986); Jobst von Heynitz, Votum für eine nutzer- und eigentumsfreundliche Reform des Bodenrechts, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1977. S. 230 ff. Siehe auch die laufenden Veröffentlichungen in folgenden Zeitschriften: Zeitschrift für Sozialökonomie sowie Fragen der Freiheit, hrsg. vom Seminar für freiheitliche Ordnung, Bad Boll (www.sffo.de).
26  Um dieses Zusammenwirken von religiöser Motivation und sozialer Phantasie insbesondere auf dem Gebiet der Geld- und Bodenordnung bemühen sich die Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) e.V., www.cgw.de; s. auch die in Anm. 14 und 17 - 19 Genannten.
27  Z.B. Oikocredit (www.oikocredit.de) und Erlassjahr (www.erlassjahr.de).