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Werner Onken:
Marktwirtschaft ohne Kapitalismus
Eine Übersicht über die Grundgedanken, die ideengeschichtliche Herkunft und den derzeitigen Entwicklungsstand, über Organisationen und weiterführende Literatur
[Fassung Mai 2005]

Übersicht:
Geld: Vom Beherrscher der Märkte ...
... zum neutralen Diener der Märkte
Boden: Treuhänderische Lebensgrundlage statt Handelsware und Spekulationsobjekt
Wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern
Weitere Wegbereiter einer Marktwirtschaft ohne Kapitalismus
Erste Organisationen in Deutschland und in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs
Zwischen den beiden Weltkriegen
Nach 1945: Neuanfang, Vergessenwerden und Wiederaufleben seit dem Ende der 1970er Jahre
Weiterführende Literatur

Geld: Vom Beherrscher der Märkte ...

1891 veröffentlichte der deutsch-argentinische Kaufmann Silvio Gesell (*1862 in St. Vith bei Eupen/Malmedy, 1930 in der bodenreformerischen Genossenschaftssiedlung Eden-Oranienburg) in Buenos Aires seine erste Broschüre „Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum sozialen Staat“. Sie bildete den Grundstein für ein umfangreiches Werk über die Frage nach den Ursachen der sozialen Frage und nach Wegen zu ihrer Lösung. Praktische Erfahrungen, die Gesell während einer Wirtschaftskrise im damaligen Argentinien gesammelt hatte, führten ihn zu einer Sichtweise, die dem Marxismus widersprach: die Ausbeutung der menschlichen Arbeit habe ihre Wurzel nicht im privaten Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern in strukturellen Fehlern des Geldwesens. Wie schon der antike Philosoph Aristoteles erkannte er die widersprüchliche Doppelrolle des Geldes als ein dem Markt dienendes Tauschmittel und als ein den Markt zugleich beherrschendes Machtmittel.

Gesells Ausgangsfrage lautete: Wie lässt sich die Eigenschaft des Geldes als wucherndes Machtmittel überwinden, ohne es dabei als neutrales Tauschmittel zu beseitigen? Die Macht des Geldes über die Märkte führte er auf zwei Ursachen zurück: Erstens ist das herkömmliche Geld als Nachfragemittel anders als die menschliche Arbeitskraft oder die Güter und Dienste auf der Angebotsseite der Wirtschaft hortbar - ohne nennenswerten Schaden für seinen Besitzer kann es aus spekulativen Gründen vorübergehend von den Märkten zurückgehalten werden. Zweitens hat das Geld den Vorteil, dass es sehr viel beweglicher ist als Waren und Dienstleistungen; wie der Joker im Kartenspiel ist es zu jeder Zeit und an jedem Ort einsetzbar. Diese beiden Eigenschaften verleihen dem Geld - vor allem den Besitzern größerer Summen - ein besonderes Privileg: Sie können den Kreislauf von Käufen und Verkäufen, Sparen und Investieren unterbrechen oder von den Produzenten und Konsumenten einen Zins als besondere Prämie dafür verlangen, dass sie auf die spekulative Kassenhaltung verzichten und das Geld in den wirtschaftlichen Kreislauf weitergeben.

Die strukturelle Macht des Geldes beruht nicht allein auf seiner tatsächlichen Hortung, sondern es genügt bereits die Möglichkeit von Kreislaufunterbrechungen, um den wirtschaftlichen Stoffwechsel im sozialen Organismus an die Bedingung zu knüpfen, dass dabei zuerst das Geld mit einem Zins bedient werde. Die Rentabilität erhält den Vorrang vor der Wirtschaftlichkeit, die Produktion wird mehr am Zins des Geldes als an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Dauerhaft positive Zinssätze stören die für eine dezentrale Selbstordnung der Märkte notwendige Balance von Gewinnen und Verlusten. Gesell zufolge führen sie zu einer Erkrankung des sozialen Organismus mit einer sehr komplexen Symptomatik: Das zinstragende und darum nicht-neutrale Geld bewirkt eine leistungswidrige, ungerechte Einkommensverteilung, welche ihrerseits zu einer Konzentration von Geld- und Sachkapital und damit zu einer Monopolisierung der Wirtschaft führt. Da die Geldbesitzer Herren über Bewegung oder Stillstand des Geldes sind, kann das Geld nicht ‘von selbst’ durch den sozialen Organismus fließen wie das Blut durch den menschlichen Körper. Deshalb sind eine gesellschaftliche Kontrolle des Geldumlaufs und eine richtige Dosierung der Geldmenge nicht möglich; deflationäre und inflationäre Schwankungen des allgemeinen Preisniveaus lassen sich nicht vermeiden. Und wenn sich im Auf und Ab der Konjunkturen größere Geldsummen wegen eines zeitweise sinkenden Zinsniveaus solange von den Märkten zurückziehen, bis die Aussichten auf rentable Anlagen wieder besser werden, ergeben sich Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit.

... zum neutralen Diener der Märkte

Als Weg zur Entmachtung des Geldes dachte Gesell nicht an einen Rückgriff auf das kanonische Zinsverbot der mittelalterlichen Scholastik oder gar an die Beseitigung von sogenannten ‘jüdischen Wucherern’. Vielmehr stellte er sich eine institutionelle Änderung des Geldwesens in der Weise vor, dass die Kassenhaltung des Geldes mit Kosten verbunden wird, welche die Vorteile der Hortbarkeit und Liquidität neutralisieren. Sobald das Geld mit einer Gebühr auf Kassenhaltung belegt wird - vergleichbar dem Standgeld für Güterwaggons im Verkehrswesen - , verliert es seine Überlegenheit über die Märkte und erfüllt dann nur noch seine dienende Funktion als Tauschmittel. Sobald seine Zirkulation nicht mehr von Spekulationsmanövern gestört werden kann, wird es möglich, die Menge des zirkulierenden Geldes fortlaufend so an das Gütervolumen anzupassen, dass die Kaufkraft der Währung über lange Zeiträume genau so stabil wird wie die Maße und Gewichte.

In seinen Frühschriften sprach Gesell ausdrücklich von „rostenden Banknoten“ als Mittel zu einer „organischen Reform des Geldwesens“. Durch sie werde das Geld, das bislang ein „toter Fremdkörper“ sowohl im sozialen Organismus als auch in der gesamten Natur war, in das ewige Stirb und Werde allen Lebens integriert; es werde gleichsam vergänglich und verliere seine Eigenschaft, sich durch den Zins und Zinseszins bis ins Unendliche zu vermehren. Eine solche Reform des Geldwesens wäre eine ganzheitliche Regulationstherapie, welche die Blockaden im Geldfluss auflöst und dem kranken Sozialorganismus eine Hilfe zur allmählichen Selbstheilung von den vielfältigen konjunkturellen und strukturellen Krisensymptomen gibt, so dass er sich in seinem Gleichgewicht stabilisieren und sich in die harmonische Gesamtordnung der Natur einfügen könnte.

In seinem 1916 in Berlin und Bern erschienenen Hauptwerk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ legte Gesell ausführlich dar, wie sich bei einer störungsfreien Geldzirkulation Kapitalangebot und -nachfrage ausgleichen, so dass das Zinsniveau unter seine bisherige Untergrenze von real drei Prozent absinken kann. Der „Urzins“, der Tribut der arbeitenden Menschen an die Macht des Geldes, verschwindet aus dem Zins, welcher nun nur noch aus der Risikoprämie und der Bankvermittlungsgebühr besteht. Die Schwankungen der Marktzinssätze um diesen neuen Gleichgewichtszins sorgen für eine dezentrale Lenkung der Ersparnisse in bedarfsgerechte Investitionen. Sie heben sich aber gegenseitig auf. „Freigeld“ als ein vom „Urzins“ befreites Geld wird verteilungsneutral und kann auch keinen gegen die Interessen von Anbietern und Nachfragern verstoßenden Einfluss auf Art und Umfang der Produktion mehr ausüben. Der volle Arbeitsertrag werde, so Gesells Erwartung, breite Bevölkerungsschichten in die Lage versetzen, lohn- und gehaltsabhängige Beschäftigungsverhältnisse aufzugeben und sich in privaten und genossenschaftlichen Betriebsformen selbständig zu machen.

Boden: Treuhänderische Lebensgrundlage statt Handelsware und Spekulationsobjekt

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erweiterte Gesell seine Konzeption einer Reform des Geldwesens um die Forderung nach einer Reform des Bodenrechts. Die Anregung hierzu erhielt er durch die Lektüre der Werke des nordamerikanischen Bodenreformers Henry George (1839 - 1897), dessen Gedanken in Deutschland durch Michael Flürscheim (1844 - 1912) und Adolf Damaschke (1865 - 1935) weitergetragen wurden. Im Gegensatz zu Damaschkes Bestreben, bei Fortbestand des privaten Bodeneigentums lediglich den Wertzuwachs zugunsten der Allgemeinheit zu besteuern, folgte Gesell dem Vorschlag Flürscheims, den Boden gegen eine Entschädigung der bisherigen privaten Eigentümer in die Hände des Staates zu überführen und zur privaten Nutzung an Meistbietende zu verpachten. Solange der Boden eine private Handelsware und ein Spekulationsobjekt bleibe, werde die organische Verbindung des Menschen mit der Erde gestört. Anders als völkischen Ideologen ging es Gesell nicht um eine Verbindung von Blut und Boden.

Als Weltbürger betrachtete er die ganze Erde als ein Organ jedes einzelnen Menschen. Alle Menschen sollten unbehindert über die Erde wandern und sich unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe und Religion überall ansiedeln können. Ähnlich wie die Bodenoberflächen sollten auch die Bodenschätze gemeinschaftliches Eigentum werden. Eine zur ihrer Bewirtschaftung eingerichtete internationale Institution sollte die Bodenschätze als Menschheitseigentum verwalten und entgeltliche Rechte zu ihrer Nutzung ausgeben.

Wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern

Zunächst dachte Gesell wie andere Bodenreformer, dass der Staat durch die Einnahmen aus der Verpachtung des Bodens in die Lage versetzt würde, seine Aufgaben zu finanzieren, ohne dafür noch weitere Steuern zu erheben (Single - Tax ). Doch führte ihn die Frage, wem die Pachteinnahmen nach dem Verursacherprinzip wirklich zustehen, zu der Überlegung, dass die Höhe der Pachteinnahmen von der Bevölkerungsdichte abhängt, letztlich also von der Bereitschaft der Frauen, Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Deshalb wollte Gesell die Pachteinnahmen als Entgelt für Erziehungsleistungen an die Mütter nach der Zahl ihrer minderjährigen Kinder in Monatsbeträgen auszahlen - auch an die Mütter nichtehelicher Kinder und an die in Deutschland lebenden Ausländerinnen. Alle Mütter sollten aus der ökonomischen Abhängigkeit von den erwerbstätigen Vätern befreit werden. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sollte dadurch auf die Grundlage einer von Machteinflüssen freien Liebe gestellt werden. In einem Vortrag „Der Aufstieg des Abendlandes“ gab Gesell seiner Hoffnung Ausdruck, dass die vom Kapitalismus körperlich, seelisch und geistig krank gemachte Menschheit in einer von Privilegien und Monopolen freien, natürlichen Wettbewerbsordnung allmählich wieder gesund werden und zu einer neuen Kulturblüte aufsteigen könne.

Weitere Wegbereiter einer Marktwirtschaft ohne Kapitalismus

Die Freiland-Freigeld-Theorie war eine Reaktion sowohl auf das Laissez-faire-Prinzip des klassischen Liberalismus als auch auf planwirtschaftliche Vorstellungen des Marxismus. Sie ist kein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Sinne späterer Konvergenztheorien oder sogenannter ‘mixed economies’, d. h. vom Staat global gesteuerter kapitalistischer Marktwirtschaften, sondern eine Alternative jenseits der bislang verwirklichten Wirtschaftssysteme. Ordnungspolitisch lässt sie sich als eine „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ charakterisieren. Eigenständig weitergedacht hat Gesell damit die Überlegungen des französischen Sozialreformers Pierre Joseph Proudhon (1809 - 1865), der schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts die private Aneignung des Bodens und die Macht des zinstragenden Geldes dafür verantwortlich gemacht hatte, dass nach dem Ende des Feudalabsolutismus keine herrschaftsfreie Gesellschaft entstanden war. Die private Bodenrente hatte Proudhon als Raub und den Geldzins als krebsartigen Wucher verurteilt. Diese ausbeuterischen Einkommensarten führten zur Entstehung des Großbürgertums als neue herrschende Klasse, die sowohl den Staat als auch die Kirchen zu Instrumenten ihrer Herrschaft über das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft machen konnte. Verwandt ist Gesells ökonomisches Alternativmodell auch mit dem ebenfalls von Proudhon angeregten libertären Sozialismus des Kulturphilosophen Gustav Landauer (1870 - 1919), der seinerseits Martin Buber (1878 - 1965) stark beeinflusste. Gedankliche Parallelen gibt es auch zum Liberalsozialismus des Arztes und Soziologen Franz Oppenheimer (1861 - 1943) und zur Sozialen Dreigliederung des Begründers der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861 - 1925).

Erste Organisationen in Deutschland und in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs

Gesells erster Mitarbeiter Georg Blumenthal (1879 - 1929) verband die Bodenrechts- und Geldreform mit der Idee einer „natürlichen Ordnung“ der Gesellschaft, mit der Francois Quesnay (1694 - 1774) und andere Physiokraten zur Zeit der französischen Aufklärung dem Feudalabsolutismus entgegengetreten waren. 1909 gründete er die Physiokratische Vereinigung als erste Organisation der Anhänger Gesells, die in Berlin und Hamburg aus den Reihen der Bodenreformer, Individualanarchisten und Syndikalisten kamen. Als die Zeitschrift „Der Physiokrat“ während des ersten Weltkriegs der Zensur zum Opfer fiel, siedelte Gesell in die Schweiz über, wo er aus den Kreisen der dortigen Bodenreformer, Reformpädagogen und Lebensreformer Anhänger fand. Sie schlossen sich im Schweizer Freiland-Freigeld-Bund zusammen. In zwei Vorträgen „Gold und Frieden?“ und „Freiland, die eherne Forderung des Friedens“ arbeitete Gesell die Bedeutung seiner Reformvorschläge als Weg zur sozialen Gerechtigkeit und zum Völkerfrieden heraus.

Zwischen den beiden Weltkriegen

Nach dem Ende des ersten Weltkriegs und der deutschen Novemberrevolution führte Gesells Verbindung mit Landauer zu seiner kurzzeitigen Mitwirkung als Volksbeauftragter für das Finanzwesen in der ersten bayrischen Räteregierung. Nach deren Sturz wurde er zunächst des Hochverrats angeklagt, von dieser Anklage aber wieder freigesprochen. Sodann zog er in die Nähe von Berlin, wo er die Entwicklung der Weimarer Republik beobachtete und in zahlreichen Broschüren und Aufsätzen kommentierte. Mit einer gestaffelten, bis zu 75%igen Vermögensabgabe wollte Gesell den Großgrundbesitz und das Großkapital zur Tilgung der Kriegsfolgen heranziehen und zugleich mit seiner Boden- und Geldreform eine inländische Kapitalbildung einleiten, die Deutschland in die Lage versetzen sollte, die Reparationsforderungen der Siegermächte zu erfüllen. Unermüdlich protestierte Gesell dagegen, dass die rasch wechselnden Regierungen stattdessen die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten durch eine große Inflation noch mehr zugunsten der Wohlhabenden ausraubten, dass sie die Reparationszahlungen verschleppten, Deutschland vom Zufluss ausländischen Kapitals abhängig machten und dass sie die stabile Rentenmark durch die krisenträchtige Goldwährung ersetzten.

Frühzeitig distanzierte sich Gesell von rassistischen und antisemitischen Ideologien. Obgleich er stark von Darwins Evolutionslehre beeinflusst war, widersprach er sozialdarwinistischen Rechtfertigungen von sozialer Ungleichheit. Einem übersteigerten Nationalismus entgegentretend, setzte er sich für eine Verständigung mit den westlichen und östlichen Nachbarn Deutschlands ein. Die Expansionspolitik der Nationalstaaten sollte durch eine machtfreie Föderation europäischer Staaten abgelöst werden. Darüber hinaus entwickelte Gesell auch Ansätze für eine nachkapitalistische Weltwährungsordnung. Er trat für einen offenen Weltmarkt ohne kapitalistische Monopole und ohne Zollgrenzen, ohne nationalen Handelsprotektionismus und ohne koloniale Eroberungen ein. Im Unterschied zu den späteren Institutionen IWF und Weltbank, die innerhalb bestehender Unrechtsstrukturen die Interessen der Mächtigen vertreten, und zur europäischen Währungsintegration wollte Gesell eine „Internationale Valuta-Assoziation“ einrichten, die ein über allen Landeswährungen stehendes neutrales Weltgeld ausgibt und so verwaltet, dass es einen Ausgleich der freien Welthandelsbeziehungen herbeiführt.

Die große Inflation der frühen Nachkriegsjahre begünstigte ein rasches Anschwellen von Gesells Anhängerschaft auf schätzungsweise 15.000 Personen. Sie zerfiel jedoch 1924 in den gemäßigten liberalen Freiwirtschaftsbund und in den radikalen individualanarchistischen Fysiokratischen Kampfbund. Zu dieser Spaltung trug eine harte Kontroverse bei, die sich an Gesells weitreichenden Vorstellungen über einen “Abbau des Staates“ entzündet hatte. Innere Flügelkämpfe schwächten die Anhängerschaft. Da es ihr nicht gelang, zu einer Massenbewegung zu werden, unternahm sie während der gesamten Weimarer Zeit vielfältige Annäherungsversuche an die Sozialdemokratie und an die Gewerkschaftsbewegung sowie an die damaligen Friedens-, Jugend- und Frauenbewegungen. Während der großen Weltwirtschaftskrise richtete der Freiwirtschaftsbund Denkschriften an sämtliche im deutschen Reichstag vertretenen Parteien, in denen er vor den verheerenden Folgen der damaligen Deflationspolitik warnte und Vorschläge zur Überwindung der Krise unterbreitete. Diese Denkschriften blieben ohne Resonanz. Als praktische Experimente des Fysiokratischen Kampfbundes mit einem Freigeld namens „Wära“ öffentliches Aufsehen erregten, wurden sie 1931 im Zuge der Brüningschen Notverordnungen vom deutschen Reichsfinanzministerium verboten. Bei den Reichstagswahlen 1932 blieb eine Freiwirtschaftliche Partei ohne Erfolg. Nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus nahm ein Teil von Gesells Anhängern eine oppositionelle Haltung ein und musste deshalb Verfolgungen auf sich nehmen. Ein anderer Teil verdrängte schließlich die Einsichten in den wahren Charakter der NS-Ideologie und gab sich trügerischen Hoffnungen hin, dass Hitler und Gottfried Feder eine ‘Brechung der Zinsknechtschaft’ vielleicht doch ernsthaft anstreben könnten. Daraus folgte der Versuch, die NSDAP von innen durch eine Beeinflussung von Spitzenfunktionären wirtschaftspolitisch umzusteuern. Trotz bedenklicher taktischer Anpassungen an das Regime wurden die freiwirtschaftlichen Organisationen und ihre Medien im Frühjahr 1934 verboten bzw. sie lösten sich selbst auf. Zu ihrer anfänglichen Fehleinschätzung des totalitären Regimes dürften nicht nur die schmerzlichen Zurückweisungen durch die Weimarer Parteien beigetragen haben, sondern vor allem auch die Unklarheit über einen geeigneten Weg zur Realisierung der Boden- und Geldreform. In Österreich (bis 1938) und in der Schweiz bestanden Freiwirtschaftsbünde fort. Von Gesells Hauptwerk erschienen auch englische, französische und spanische Übersetzungen. Einführende Broschüren entstanden außerdem in den niederländischen, portugiesischen, tschechischen, rumänischen und serbokroatischen Sprachen sowie in Esperanto. Dementsprechend gab es kleinere Gruppen in England, Frankreich, Holland, Belgien, in der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. In Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland gingen solche Gründungen von deutschen Auswanderern aus.

Nach 1945: Neuanfang, Vergessenwerden und Wiederaufleben seit dem Ende der 1970er Jahre

In allen damaligen Besatzungszonen Deutschlands kam es zur Neugründung freiwirtschaftlicher Organisationen. In der sowjetisch besetzten Zone wurden sie 1948 aufgelöst; die dortigen Machthaber betrachteten Gesell entweder als einen ‘Apologeten der Monopolbourgeoisie’ oder wie Marx’ Gegenspieler Proudhon als einen ‘kleinbürgerlichen Sozialisten’, dessen Ziele mit dem ‘wissenschaftlichen Sozialismus’ unvereinbar waren. In Westdeutschland entschied sich die Mehrzahl der noch verbliebenen Anhänger Gesells aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Weimarer Parteien für ein eigenes parteipolitisches Engagement. Sie bildete eine Radikalsoziale Freiheitspartei, die 1949 bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag knapp 1% der Stimmen bekam. Danach benannte sie sich in Freisoziale Union um und erzielte bei weiteren Wahlen nur noch minimale Stimmenergebnisse. Tagungen fanden jedoch weiterhin in einer Silvio-Gesell-Tagungsstätte bei Wuppertal und Neviges statt.

Das westdeutsche Wirtschaftswunder brachte während der 1950er und 1960er Jahre das öffentliche Interesse an wirtschaftspolitischen Systemalternativen zum Erliegen, obwohl namhafte Nationalökonomen wie Irving Fisher und John Maynard Keynes die Bedeutung Silvio Gesells anerkannt hatten. Erst seit dem Ende der 1970er Jahre führten die Massenarbeitslosigkeit, die Umweltzerstörung und die internationale Schuldenkrise zu einem Wiederanstieg des Interesses an Gesells fast vergessenem Modell einer alternativen Ökonomie. Dadurch wurde auch ein Generationenwechsel innerhalb seiner Anhängerschaft möglich.

Im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel gibt es eine Schweizerische Freiwirtschaftliche Bibliothek. In Deutschland hat die Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung 1983 mit dem Aufbau einer Freiwirtschaftlichen Bibliothek begonnen. Als Grundstein für eine wissenschaftliche Forschung über Silvio Gesells Theorien hat sie von 1988 bis 1997 eine Gesamtausgabe seiner Werke in 18 Bänden herausgegeben. Hierauf baut eine Buchreihe mit dem Titel „Studien zur Natürlichen Wirtschaftsordnung“ auf, die mit einer Gesamtübersicht über die einhundertjährige Geschichte der NWO-Bewegung und mit einer Auswahl aus den Werken von Gesells bedeutendstem Schüler Karl Walker begann. Die Stiftung fördert auch andere Buchpublikationen zu Fragen des Bodenrechts und der Geldordnung und gibt gemeinsam mit der Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft eine „Zeitschrift für Sozialökonomie“ heraus. Außerdem hat sie 1988 und 1995 einen „Karl-Walker-Preis“ für wissenschaftliche Arbeiten über die Verselbständigung der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft sowie über Wege zur Überwindung der Arbeitslosigkeit verliehen. Das Seminar für freiheitliche Ordnung publiziert die Schriftenreihe „Fragen der Freiheit“. Daneben gibt es eine Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung, die sich zusammen mit befreundeten Organisationen in der Schweiz und in Österreich um eine Popularisierung von Gesells Gedanken bemüht. Eine Vereinigung Christen für Gerechte Wirtschaftsordnung verbindet den Denkansatz der Boden- und Geldreform mit der jüdisch-christlich-muslimischen Kritik an der Bodenspekulation und am Zinsnehmen. Margrit Kennedy, Helmut Creutz und andere Autor/innen arbeiten an einer Aktualisierung von Gesells Denkansatz. Dabei geht es unter anderem um die Frage nach dem Zusammenhang des exponenziellen Wachstums der Geldvermögen und Schulden mit dem die Umwelt zerstörenden Wachstum der realen Wirtschaft, um eine Überwindung des Wachstumszwangs und um eine Verbindung der Boden- und Geldreform mit einem ökologischen Steuersystem. Eine Zwischenbilanz über den derzeitigen Stand der Theorieentwicklung gibt das Buch „Gerechtes Geld - Gerechte Welt“. Es enthält die Beiträge zu einer 1991 in Konstanz veranstalteten Tagung „100 Jahre Gedanken zu einer Natürlichen Wirtschaftsordnung - Auswege aus Wachstumszwang und Schuldenkatastrophe“.

Der Zusammenbruch des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa brachte einen vorläufigen Triumph des westlichen Kapitalismus im Wettkampf der Systeme. Solange jedoch die Gegensätze zwischen Armut und Reichtum und als Folge davon Krisen und Kriege fortbestehen, solange die Umwelt durch exponenzielles Wirtschaftswachstum zerstört wird und solange der industrialisierte Norden den Süden rücksichtslos ausplündert, bleibt es notwendig, nach Alternativen zu den herkömmlichen Wirtschaftssystemen zu suchen. Darin könnte eine Zukunftsperspektive auch für Silvio Gesells Freiland-Freigeld-Modell liegen.


Weiterführende Literatur

Silvio Gesell, Gesammelte Werke in 18 Bänden. Lütjenburg: Gauke Verlag Abt. Sozialökonomie 1988 - 1997.
Hans-Joachim Werner, Geschichte der Freiwirtschaftsbewegung - 100 Jahre Kampf für eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Münster und New York: Waxmann Verlag, 1990.
Günter Bartsch, Die NWO-Bewegung Silvio Gesells –Geschichtlicher Grundriss 1891 - 1992/93. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1994.
Karl Walker, Ausgewählte Werke. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1995.
Internationale Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung (Hg. ), Gerechtes Geld - Gerechte Welt / Auswege aus Wachstumszwang und Schuldenkatastrophe. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1992.
Dieter Suhr, Die Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus. Berlin: Basis Verlag, 1986. Voltextdownload auf https://www.dieter-suhr.info/de/Publikationen/buecher.html
Dieter Suhr, Der Kapitalismus als monetäres Syndrom - Aufklärung eines Widerspruchs in der Marxschen Politischen Ökonomie. Frankfurt: Campus Verlag, 1988. Voltextdownload auf https://www.dieter-suhr.info/de/Publikationen/buecher.html
Gerhard Senft, Weder Kapitalismus noch Kommunismus - Silvio Gesell und das libertäre Modell der Freiwirtschaft. Berlin: Libertad Verlag, 1990.
Elimar Rosenbohm, Überlegungen zu einer modernen Wirtschafts- und Währungsordnung der DDR. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1990.
Margrit Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation - Ein Tauschmittel, den jedem dient. München: Goldmann Verlag, 1991.
Wera Wendnagel, Mama Moneta oder die Frauenfolge. Frankfurt: Ulrike Helmer Verlag, 1990.
Wera Wendnagel ( Hg. ), Frauen leisten die wichtigste Arbeit. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1996.
Helmut Creutz, Das Geldsyndrom - Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft. Frankfurt und Berlin: Ullstein Verlag, 2001.
Helmut Creutz, Wirtschaftliche Triebkräfte von Rüstung und Krieg, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 128. Folge (2001), S. 21 - 38.
Roland Geitmann, Bibel - Kirchen - Zinswirtschaft / Natürliche Wirtschaftsordnung und Islam / Natürliche Wirtschaftsordnung und Judentum, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 80. Folge (1989), S. 17 - 24; 85. Folge (1990), S. 7 - 12; 106. Folge (1995), S. 33 - 40.
Peter Kafka, Gegen den Untergang - Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise. München: Carl Hanser Verlag, 1994.
Ernst Winkler, Vor einer Mutation unseres Wirtschaftssystems. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1994.
Werner Onken, 1492 - 1992: 500 Jahre Mord, Landraub und Ausbeutung in Lateinamerika, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 94. Folge (1992), S. 3 - 16.
Werner Onken; Silvio Gesells kritische Distanz zum Rechtsextremismus in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 106. Folge (1995), S. 2 - 17.- Ders., Natürliche Wirtschaftsordnung unter dem Hakenkreuz - Anpassung und Widerstand. Lütjenburg 1997.
Andreas Rams und Norman Ehrentreich, Arbeitslosigkeit - wie kann sie überwunden werden? Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1996.
Dirk Löhr und Johannes Jenetzky, Neutrale Liquidität - Zur Theorie und praktischen Umsetzung. Frankfurt 1996.
Bernd Senf, Der Nebel um das Geld - Zinsproblematik, Währungssysteme und Wirtschaftskrisen. Lütjenburg: Gauke Verlag, Abt. Sozialökonomie, 1996.
Bernd Senf, Die blinden Flecken der Ökonomie - Wirtschaftstheorien in der Krise. München 2001.
Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (Hg.), Damit Geld dient und nicht regiert. Berlin 1998.
Thomas Huth, Die Goldene Regel als Wettbewerbsgleichgewicht - Ein Versuch über Keynes. Berlin 2001.
Thomas Betz, Globalisierung des Geldes, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 125. Folge (2000), S. 14 - 26.
Thomas Betz, IWF und Weltbank - Anspruch und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 132. Folge (2002), S. 17 - 33.

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Erstveröffentlichung in: Diethard Kerbs und Jürgen Reulecke (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 - 1933. Wuppertal 1998, S. 277 - 288. (Aktualisierung im Februar 2003)
Englische Übersetzung von Dipl.-Volkswirt Jörg Gude, in: American Journal of Economics and Sociology Nr. 4 / October 2000 (Vol. 59), p. 609 - 622. > direkt zum englischen Text http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/onken/engl.htm
Polnische Übersetzung von Justyna Tkaczyk, in: Zielone Brygady - Pismo Ekologów Nr. 11(179)/2002, S. 14 - 23.